Martin Amanshauser

Der Mister Hundertvierzigstel Philharmoniker

Irgendwie hat man den Eindruck, der Mann mit dem Bubengesicht kann es selbst nicht so ganz fassen. Dass er hier, in seinem kleinen Büro, im Halbstock des Musikvereinshauses, als Vorstand der Wiener Philharmoniker residiert, also sowas wie der Präsident des Vereins ist. Seit dreißig Jahren eingetragenes Mitglied. Einer der prominentesten Geiger. Zudem der Archivar der Philharmoniker, ihr Historiker, der zum 150-jährigen Jubiläum ein Monsterwerk von über 1,9 Millionen Anschlägen geschrieben hat, Titel „Demokratie der Könige, Die Geschichte der Wiener Philharmoniker“, ein Bestseller mit über 13.000 verkauften Stück. Das ist jetzt auch schon 16 Jahre her, das war 1992. Draußen ein Dezembertag mit Schneeregen. Clemens Hellsberg wirft keinen Blick nach draußen. Das Fenster lässt einen schmalen Blick frei auf die Bösendorferstraße im Ersten Wiener Gemeindebezirk. Wenn Hellsberg redet, lässt er sich auf den Gesprächspartner ein. Er erzählt, dass er ungefähr dreitausend Stunden im Jahr arbeitet. Und er sieht auch wirklich etwas erschöpft aus.

Hinter ihm ein Stich von Richard Strauß mit der Unterschrift des Meisters, der den Philharmonikern innigsten Dank entrichtet. Daneben ein Foto von Toscanini. Ein Bild von Bruckner. Alle mit Originalautographen. Ob sein Job Spaß macht? „Manches macht Spaß, manches nicht.“ Was denn nicht? „Das ständige, das permanente Hin und Her … das Zeit kostet …“ Hellsberg ringt nach Worten, weil er etwas beschreiben möchte, was grundsätzlich gar nicht negativ ist, was ihm aber unwillkürlich das tägliche Brot seiner Probleme einhandelt. Oft hadert er mit der Stärke des berühmtesten Orchesters der Welt: mit den selbst verordneten „demokratischen“ Strukturen. Er als Vorstand ist weit davon entfernt, eigenmächtig Entscheidungen zu treffen. „Alles wird im Plenum entschieden, in sechs bis sieben Hauptversammlungen pro Jahr. Ich selbst sehe mich nur als Hundertvierzigstel, ich habe wie alle anderen eine Stimme in der Versammlung.“ Es gehört zu den Qualitäten Clemens Hellsbergs, dass er sich nicht eitel gibt, dass er Realitätssinn hat. Und außerdem, dass er wie kein anderer die Geschichte seiner Institution kennt.

Das wird spätestens klar, wenn er erzählt, wie er in den Achtziger Jahren vorfühlte, ob er denn nicht das Archiv aufarbeiten könne. Das damals noch eine unbearbeitete Sammlung war. Er selbst war ja nicht nur seit 1976 im Orchester der Wiener Staatsoper und drei Jahre später reguläres Mitglied der Philharmoniker – der reguläre Ablauf –, sondern hatte 1980 an der Uni Wien im Hauptfach Alte Geschichte promoviert, war also durchaus qualifiziert für die Unternehmung. „Ich habe in der Versammlung deutlich gesagt, dass ich über 150 Jahre der Wiener Philharmoniker schreiben will, und nicht über 143.“ Clemens Hellsberg hebt den Kopf, um nachzuprüfen, ob sein Gegenüber versteht. Die Zeit des Nationalsozialismus ist zweifellos die dunkelste Epoche des Orchesters.

Hellsberg steht auf, holt mit federnden Schritten sein eigenes Buch aus der Stellage und zitiert zum Beweis seinen Satz über 1938: „Der ´Umbruch´ hatte tatsächlich bereits begonnen, und auch in den Reihen der Philharmoniker standen die Vasallen des Ungeistes bereit zur Machtübernahme, die innerhalb der Künstlerereinigung mit derselben erschreckenden Perfektion ablief wie im ganzen Land.“ Er blickt auf: „Da steht es doch. Die Vasallen des Ungeistes! Klarer kann man es nicht sagen. Wer das nicht verstehen will, der versteht die Worte Vasall und Ungeist vielleicht nicht!“ Hellsberg ist jetzt erregt, als hätte ihn jemand angegriffen – da hat jemand Kritik einstecken müssen. Egal – denn nicht nur dieser vereinzelte Satz, auf den er Wert legt, ist der Beweis für Hellsbergs historisches Feingefühl, sondern sein penibel recherchiertes 40-seitiges Kapitel über die Philharmoniker im NS-Staat.

„Ich hab mir natürlich überlegt, wieso gerade in diesem Orchester ein so hoher Anteil an NSDAP-Mitgliedern zu finden war“, führt Hellsberg die Überlegungen weiter, „ich glaube, das ist auf Entwicklungen zurückzuführen, die über Jahrzehnte, Jahrhunderte falsch gelaufen sind. Prinzipiell falsch. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen deutscher, französischer, russischer Musik. Aber dass Unterschiede mit Wertungen gleichgesetzt werden, ist unzulässig.“ Gerade Musik sei ja übergreifend wie keine andere Kunst. Denke man das weiter, komme man irgendwann zur Differenzierung in Menschen und Untermenschen. Clemens Hellsberg rührt nachdenklich in seinem Kaffee. Er verströmt nichts von einem Revolutionär, aber ein Humanist ist er allemal. Und zwar ein ziemlich engagierter.

„Die Aufarbeitung der NS-Zeit war nicht gerade einfach“, erläutert er, „einerseits gab es familiäre Zusammenhänge, andererseits hatten viele aktive Mitglieder noch Lehrer, die vor 1945 im Orchester spielten. Und das Verhältnis von Schüler zu Lehrer ist oft ein besonderes.“ Trotzdem gab es, wohl zurückzuführen einerseits auf Hellsbergs inhaltliche Kompetenz, andererseits auf den richtigen Tonfall, den er zu treffen pflegt, keine empörten Reaktionen. Sonst hätten ihn die Kollegen ja 1997 nicht zum Vorstand gewählt und ihn seitdem im 3-Jahres-Abstand bestätigt. Aber dennoch: Ist es denn kein klassisches Beispiel für Unvereinbarkeit, dass ein aktives Mitglied einer Institution über selbige forscht und das Standardwerk schreibt?

Hellsberg nickt nachdenklich – das Thema hat ihn beschäftigt. „Als Historiker weiß ich, das funktioniert.“ Es sei ohnehin wichtig, einen Schritt zurückzutreten, wenn man sich mit einem Thema befasse – Interessenskonflikt? „Stimmt vielleicht. Ich bin in diesem Orchester sozusagen aufgewachsen. Habe nie in einem anderen gespielt. Ha! Da ist eine gewisse Bewusstseinsspaltung … natürlich. Es ist aber nicht so auf Nestroy, wer ist stärker, i oder i? Zunächst scheint es eine unlösbare Situation. Man merkt aber irgendwann, verschiedene Verhaltensmodelle der Menschen ändern sich nicht. In einem Verein treten sie besonders zutage. Ich hab das alles angesprochen – aber manches auf den historischen Teil beschränkt. Von Eifersüchteleien der Jetztzeit erfährt der Leser nichts, da begänne der Interessenskonflikt, und es ginge um Persönlichkeitsrechte. Kennt man die handelnden Personen, wird einem vieles leichter verständlich, nur die Beurteilung wird schwerer.“

Clemens Hellsberg lächelt: Er hat eine Klippe umschifft, die er gut kennt. Dass die grundsätzliche Problematik bestehen bleibt, ist ihm ohnehin klar. Wie steht es so treffend in seinem Buch? „Ich darf hierzu bemerken, dass diese Vereinigung meiner Überzeugung nach durch ihren künstlerischen Rang über eine idealisierende Hofberichterstattung erhaben ist (…)“, dass er ihr gerade als Mitglied das Streben nach einer ungeschminkten Darstellung schulde. Clemens Hellsberg war einfach der richtige Mann, der im richtigen Moment begann, das Archiv aufzubereiten. Mittlerweile befindet es sich im „Haus der Musik“ und ist für junge Forscher zugänglich. „Man könnte über jede Phase der Philharmoniker-Geschichte eine fünfhundertseitige Studie machen. Ich könnt 24 solche Bände schreiben, wenn ich die Geschichte vertiefen würde – aber einem gewissen Zeitpunkt wäre es dann nicht mehr lesbar.“

Dass es im letzten Jahr Kritik gab, die Philharmoniker würden jungen Wissenschaftlern ihr Archiv vorenthalten, ärgert Clemens Hellsberg zutiefst: „Zuerst einmal sind wir ein privater Verein, wir müssten eigentlich niemanden ins Archiv schauen lassen … aber gerade das wollen wir ja. Es fehlten nur einfach die Ressourcen. Doch mittlerweile haben wir eine Theaterwissenschaftlerin, die Forschende betreuen kann und ihnen Zugang verschafft.“ Hellsberg streicht sich über die Stirn: „Dass diese Vorwürfe gerade zu einer Zeit kamen, als wir diese Mitarbeiterin eingestellt hatten, war auch nicht gerade gut recherchiert von den Medien.“

In den 167 Jahren ihres Bestehens haben die Wiener Philharmoniker viele Phasen durchlaufen, und niemand könnte behaupten, Clemens Hellsberg sei eine von ihnen unbekannt. Gegründet 1842 von Otto Nicolai, jenem Komponisten, der „Die lustigen Weiber von Windsor“ schrieb, stand Selbstverwaltung von Beginn an an erster Stelle, oder, wie er es ausdrückte, „der freie Wille sämtlicher Orchestermitglieder“, wobei er seine eigene Position als „Director“ herunterspielte. Nicolais Verhältnis zu „seinen“ Philharmonikern war kein unproblematisches, wie ja auch die Vormärz-Jahre des Orchesters mit seiner Gründungs-Trias Nicolai, Schmidt und Becher turbulente waren – Dr. Alfred Julius Becher tat sich 1848 als Revolutionär hervor und wurde tatsächlich hingerichtet. „In dieser demokratischen Struktur des Orchesters hat sich ja viel manifestiert, was 1848 zunächst zum Ausbruch kam, was da auch niedergeschlagen wurde. Die Musik, die Konzerte, das war ein nicht beachteter Freiraum. Atemberaubend wie 1842-48 war auch die Zeit 1933-38. Die Vorgeschichte ist ja immer das Interessanteste. Dort werden die Weichen gestellt. Dort wäre es noch zu verhindern. Wenn es einmal soweit ist, dann ist die Katastrophe da.“

Der Dirigent, das war bei den Philharmonikern nie der Chef, auch wenn Persönlichkeiten wie Toscanini, Böhm, Bernstein oder Karajan dem Orchester stark verpflichtet waren. Das System an sich (Pensionsregelungen, etc) ist nur möglich, weil die Musiker Mitglieder des Orchesters der Wiener Staatsoper waren und sind. Hellsberg kennt natürlich jeden einzelnen – mit den Pensionisten gibt es nun an die 250 Philharmoniker. Die Einzigartigkeit und Unabhängigkeit beginnt dort, wo eben kein Theaterdirektor oder Manager das Sagen hat – sondern höchstens ein Hellsberg, der sich stolz seiner Kleinheit bewusst ist. Und der als Geiger auch nur ein Teil des Ganzen ist. „Ich kann mir wirklich keinen schöneren Beruf vorstellen. Wenn ich Dvořák spiele, fühl ich mich … als Teil der tschechischen Musik.“ Ist das sein Lieblingskomponist? „Schwer zu sagen. Am liebsten spiele ich das Violinkonzert von Debussy. Vielleicht auch am besten.“ Clemens Hellsberg zögert oft, wenn er über sich spricht. „Ich glaube, das ist ein Stück, in das ich mich gut hineinfühlen kann“, setzt er hinzu. Natürlich gehört da dazu, dass man in der Freizeit übt – auch mit seiner Erfahrung. „Technisch sind Strauß und Wagner schwierig. Aber wenn man an die ununterbrochene Anforderung denkt, eine klangliche Qualität dreieinhalb Stunden lang durchzuhalten, dann ist Mozart natürlich schwerer.“ Bei der Frage, welche Musik ihm nicht so gefällt, muss er länger nachdenken. „Wenn man in der Oper die Begleitfunktion hat. Wenn es nur auf die Singstimme geht. Dann kann es streckenweise schon langweilig sein.“

Clemens Hellsberg nippt an seinem Kaffee – wann kommt sie denn, die ewige Frage? Okay, gerne gestellt: Sind die Wiener Philharmoniker Machos? Ein verschwitzter, reaktionärer Männerverein, der halt außergewöhnlich fiedelt, aber ansonsten rückgewandt und selbstbezogen agiert und erst seit 1997 nach massivem öffentlichen Druck Frauen mitspielen lässt? Hellsberg lächelt, denn er räumt mit solchen Vorurteilen ganz locker auf: „Die Mitgliedschaft von Frauen war logische Folge einer gesellschaftlichen Entwicklung. Da geht es nicht so sehr um die Wiener Philharmoniker. Es hat ja ursprünglich in keinem Orchester der Welt Frauen gegeben. Andererseits steht in den Statuten von 1842 nirgends, dass nur Männer zugelassen sind.“ Außerdem dürfe es beim Aufnahmeverfahren der Jetztzeit nur ein einziges Kriterium geben: Qualität. „Aus der heutigen Warte wäre es völlig absurd, auf einen Teil des musikalischen Potentials freiwillig zu verzichten!“

Besondere Vorurteile bei den Kollegen diagnostiziert er nicht – außerdem, das Vorspielen, das strenge Auswahlverfahren, finde ja hinter einem Vorhang statt. Die Öffnung der Philharmoniker ist auch am Zuwachs ihrer internationalen Mitglieder abzulesen. Aber passen sich die wirklich alle an, spielen sie den außergewöhnlichen Wiener Streicherklang, auf den das Orchester stolz ist – oder ist dieser Streicherklang eher Legende als Realität? „Vielleicht ein bisschen von beidem. Faktisch gibt es eben die Wiener Oboe und das Wiener Horn, und die Streicher haben bei uns die Tendenz, etwas weicher und obertonreicher zu spielen. Insofern ist es keine Hypothese. Man muss auch bedenken, dass früher sehr viele Musiker immer von einem einzigen Lehrer ausgebildet wurden – und viele dieser Lehrerpersönlichkeiten prägen dann eben eine ganze Generation.“

Jetzt kann Hellsberg auch nicht umhin, auf seinen Sohn Dominik zu verweisen, 1982 geboren, der seit kurzem als eines der jüngsten Geiger im Orchester spielt, denn der wurde ja noch von Alfred Staar ausgebildet: es gibt noch immer Primgeier, die zwei Generationen prägen und auch ihre Klangvorstellungen weitergeben. Auf Tradition wird da durchaus Wert gelegt – aber natürlich vor allem auf Qualität. Die sicher erlernbar ist, aber eben nicht nur. Clemens Hellsberg hat vier Kinder. Aber jedes Kind ist eben anders, „manche wollen, manche wollen nicht.“ Wenn man jetzt seine Zustimmung haben möchte für die moderne Auffassung, dass man glückliche Kinder nicht zu unglücklichen Wunderkindern erziehen sollte, dann winkt Clemens Hellsberg ab: „Natürlich geht nichts mit Zwang. Aber bei der Musik muss man schon dahinter sein. Es gibt ein Alter, in dem man alles noch leicht lernt – später lernt man es einfach nicht mehr.“ Und dadurch kann man aufatmen: da sitzt eben doch ein Besessener, einer, der für die Musik lebt und für die Tradition. Einer, dem Sturheit gut zu Gesicht steht. Clemens Hellsberg hätte noch vieles zu sagen – doch sein nächster Termin wartet. Er steht auf. Er beachtet nicht die Bilder von Strauß, Toscanini und Mahler, würdigt den kalten Nieselregen draußen keines Blicks. Er hat – wie immer – zu tun.